Der 16. Oktober 1925. Die Konferenz von Locarno und das Rheinland
Am 16. Oktober 1925 wurden die Verträge von Locarno unterzeichnet, mit denen Deutschland die "politische und moralische Isolierung" der ersten Nachkriegsjahre überwand. Im Rheinland, wo die französische Besatzungspolitik mehr oder weniger vorsichtig auf eine Lockerung des Gebietes aus dem Reichsverband hinarbeitete, wurden die Verhandlungen von Anfang an mit großem Interesse und mit der Hoffnung auf Erleichterungen der Besatzungslasten verfolgt. Der "Geist von Locarno" zeigte seine Wirkung für das Rheinland tatsächlich sehr schnell. Es kam zu einer zeitweisen Annäherung zwischen Franzosen und Deutschen und zu einer Lockerung des Kontroll- und Verwaltungssystems der Besatzer, die in dem Abzug der alliierten Truppen aus der Kölner Besatzungszone im Jahre 1926 gipfelten. Eine dauerhafte Entspannung des Verhältnisses konnte allerdings nicht erreicht werden, wie auch die zahlreichen Befreiungsfeiern nach dem endgültigen Abzug der Franzosen aus dem Rheinland im Jahre 1929 mit ihrem eindeutig nationalen Charakter zeigten.
Nachdem Deutschland den 1. Weltkrieg verloren hatte, waren die Befürchtungen sehr stark, dass Frankreich die Rheingrenze fordern und das Rheinland aus dem Reichsverband lösen würde. Diese Furcht vor einer Annexion durch Frankreich überlagerte im Rheinland Ende des Jahres 1918 die Diskussionen um die politische Zukunft des Deutschen Reiches. Aufgrund der Bestimmungen des Waffenstillstandes und des Versailler Vertrages vom 28. Juni 1919 wurde das gesamte Gebiet des heutigen Bundeslandes Rheinland-Pfalz bis auf den Landkreis Altenkirchen, den Norden des Kreises Neuwied und den Osten des Westerwaldkreises von alliierten Truppen besetzt. Im Jahr 1919 rückten die Amerikaner in den östlichen Teil des Regierungsbezirks Koblenz ein. Zwischen Frühjahr 1922 und Januar 1923 übergaben sie das ganze Gebiet an die französische Militärverwaltung, die seit Ende 1918 den Regierungsbezirk Trier sowie den westlichen Teil des Regierungsbezirks Koblenz besetzt hielt. Alle Bereiche der Innen- und Wirtschaftsverwaltung unterstanden in der besetzten Zone der Aufsicht durch die Alliierten: In Koblenz wurde 1920 die interalliierte Rheinlandkommission gebildet, die häufig in Verwaltungsangelegenheiten eingriff.
Die französische Besatzungspolitik hatte von Anfang an mehr oder weniger vorsichtig auf eine Lockerung des Rheinlandes vom Reich hingearbeitet. Neben den hohen Reparationsforderungen und der Ruhrkrise 1923 führte vor allem die Anwesenheit der umfangreichen Besatzungstruppen zu nicht unerheblichen Belastungen der rheinischen Bevölkerung. Aber auch die Schaffung einer entmilitarisierten Zone bewirkte insbesondere für Städte wie Koblenz und Trier eine einschneidende Änderung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Grundvoraussetzungen. Erst nach dem endgültigen Scheitern der durch die Franzosen unterstützten rheinischen Separatistenbewegung im November 1923, die die Unzufriedenheit und Verbitterung der Bevölkerung für die Durchsetzung einer rheinischen Republik zu nutzen versucht hatte, und der seit Anfang 1924 einsetzenden Stabilisierung der deutschen Währung begann eine Phase der Verständigung zwischen Besatzern und Besetzten, die eng mit dem Namen der italienischen Stadt Locarno verknüpft ist.
Mit dem Dawes Plan über die deutschen Reparationsleistungen, der am 16. August auf der Londoner Konferenz, an der zum ersten Mal seit Versailles deutsche Regierungsmitglieder als gleichberechtigte Verhandlungspartner teilnahmen, angenommen wurde, begann eine neue Phase in dem Verhältnis zwischen den Alliierten und Deutschland. Die Bereitschaft beider Seiten, die Interessenlage der Gegenseite ernstzunehmen, führte im Oktober 1925 nach einem intensiven Notenwechsel zu einem Treffen der führenden Staatsmänner in Locarno. Der Verlauf der Konferenz stand seit ihrem Beginn am 5. Oktober im Mittelpunkt der Berichterstattung auch der Tageszeitungen des Rheinlandes. Mit "verhaltenem Optimismus" wurde die Konferenz beobachtet und besonders in Bezug auf die Situation des besetzten Rheinlandes Besserungen erwartet. Die Unterzeichnung des Locarnoabkommens am 16. Oktober bestätigte diesen Optimismus. Deutschland überwand mit diesen Verträgen die Isolierung der ersten Nachkriegsjahre. Zwischen England, Frankreich, Belgien, Italien, Polen, der Tschechoslowakei und Deutschland wurde der sogenannte Rheinpakt vereinbart, worin Frankreich und Belgien einerseits und Deutschland andererseits auf eine gewaltsame Änderung ihrer gemeinsamen Grenzen verzichteten. Deutschland erkannte die Entmilitarisierung des Rheinlandes an. Frankreich schloss darüber hinaus Beistandsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei für den Fall eines deutschen Angriffs.
Für das Rheinland war dieser 16. Oktober 1925 von entscheidender Bedeutung, weil es tatsächlich zu einer spürbaren Annäherung mit Frankreich kam, auch wenn diese nicht sehr lange anhielt. Die Coblenzer Volkszeitung gab am 19. Oktober in einer ausführlichen Berichterstattung über die Bedeutung der Verträge eine Einschätzung des Außenministers Stresemann zu der Rheinlandfrage wieder: "Unter den behandelten Fragen hat für die deutsche Abordnung die Rheinlandfrage an erster Stelle gestanden. Diese Frage war der Gegenstand langandauernder Aussprachen zwischen den Staatsmännern der Besatzungsmächte und den deutschen Vertretern. [...] Wenn der Vertrag von Locarno angenommen ist, so bedeutet das eine große praktische Erleichterung für das besetzte Gebiet. [...] Der französische Minister bezeichnete es als selbstverständlich, daß der Vertrag von Locarno sich auswirken müsse in einer wesentlichen Änderung und Erleichterung in dem Verhältnis zu dem besetzten Gebiet."
Die Ahrweiler Zeitung berichtete ebenfalls am 22. Oktober über den Empfang einer Abordnung von dreißig Vertretern der rheinischen Bevölkerung aus Politik und Wirtschaft durch Reichsregierung und Reichspräsident, die am 21. Oktober stattgefunden hatte. "Bei der Berufung dieser Vertretung des besetzten Gebietes ging die Reichsregierung, wie bekannt, von dem Wunsche aus, sich über die Eindrücke zu unterrichten, welche die Verhandlungen und der Vertrag von Locarno auf die von den Auswirkungen des Vertrages zunächst betroffene Bevölkerung der besetzten Gebiete gemacht haben. Der Oberpräsident der Rheinprovinz Johannes Fuchs, der ebenfalls zu der Delegation gehörte, wandte sich am folgenden Tag noch einmal in einem persönlichen Schreiben an Reichskanzler Luther und beschrieb die Hoffnungen, die mit der Unterzeichnung der Verträge verknüpft wurden und von der Delegation auch während der Gespräche vertreten worden waren. "Wir dürfen gewiß mit größter Berechtigung wünschen, auch eine persönliche Erleichterung von den vielen Drangsalen der Besatzung zu erfahren. Aber viel schlimmer lastet auf uns der politische Alpdruck, den wir in erster Linie im Interesse unseres Vaterlandes von uns genommen wissen möchten. Wir konnten nicht hoffen, daß nach dem Abschluß der Locarnoverträge das gesamte Frankreich von heute auf morgen von einem Saulus zum Paulus wird. Wir glauben aber, mit Bestimmtheit hoffen zu dürfen, daß als Rückwirkung von Locarno durch eine vollständige Veränderung des Rheinlandregimes, Reduzierung der Truppen auf eine Mindestzahl und äußerste Einschränkung des für uns so gefährlichen Apparates der Rheinlandkommission mit ihrem gesamten Anhang und Aufhebung der gänzlich unberechtigten Ordonnanzen, Frankreich die Waffen zur Verfolgung des Rheinlandzieles aus der Hand gewunden werden."
Bereits am 24. Oktober erfolgte eine konkrete Reaktion des preußischen Innenministeriums auf die Vertragsabschlüsse und die Situationsbeschreibung der rheinischen Delegation. Mit einem Erlass an den Oberpräsidenten und die Regierungspräsidenten in Coblenz, Köln, Düsseldorf, Trier, Aachen und Wiesbaden forderte das Ministerium ab dem 30. Oktober zweimal wöchentlich einen detaillierten Bericht aus der Rheinprovinz über die positiven und negativen Folgen der Vertragsunterzeichnung von Locarno. "Nach Beendigung der Konferenz von Locarno erfordern die Verhältnisse in den besetzten rheinischen Gebieten in der nächsten Zeit nach den verschiedenen Richtungen hin eine besonders aufmerksame Beobachtung. Es kommt einerseits darauf an, alle Vorkommnisse von einiger Bedeutung zu verfolgen, die etwa als Merkmale dafür zu gelten hätten, daß die erwartete grundlegende Änderung der Besatzungsverhältnisse und des Besatzungsregimes in Verfolg der Verhandlungen in Locarno überhaupt nicht oder nicht in einem den berechtigten deutschen Hoffnungen entsprechenden Umfange eingetreten ist. Auf der anderen Seite ist besonderer Wert darauf zu legen, alle Tatsachen oder beachtlichen Anzeichen kennen zu lernen und zu würdigen, die auf einen wirklichen Umschwung in den Absichten und dem Verhalten der Besatzungsmächte und ihrer Organe hindeuten."
Diese "Locarno-Berichte" geben einen interessanten Einblick in den Besatzungsalltag, der sich in den kommenden Wochen und Monaten tatsächlich langsam entspannte. Besetzte Wohnungen wurden freigegeben und seit November wurden deutliche Lockerungen im Kontroll- und Verwaltungssystem der Besatzer erkennbar. Im Januar 1926 zogen sich die alliierten Truppen aus der Kölner Zone zurück und es kam in dem verbleibenden Besatzungsgebiet zu einer Reduzierung der Truppen. Der "Geist von Locarno" zeigte seine Wirkung, reichte aber nicht aus, um in dem alltäglichen Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen in den besetzten Gebieten Verständnis und Toleranz entstehen zu lassen. Der vollständige Abzug der französischen Truppen im November 1929 wurde nicht, wie es die französische Regierung gewünscht hatte mit einer gemeinsamen deutsch-französischen Rheinlandfeier betont, sondern mit rein deutschen "Befreiungsfeiern" in fast allen rheinischen Städten. Diese Feiern, die in Frankreich einen ausgesprochen negativen Eindruck hinterließen, zeigen, dass der 16. Oktober 1925 und mit ihm die Verträge von Locarno nicht in der Lage gewesen waren, eine dauerhafte Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich am Rhein einzuleiten.
Quellen
- LHAKo Bestand 403, Nr. 16816. Ober-Präsidium der Rheinprovinz. Akten betr. Friede am Rhein, Okt. 1925 bis Dez. 1928.
- LHAKo Bestand 441, Nr. 19838. Bezirksregierung Koblenz. Sicherheitspakt Locarno.
- LHAKo Bestand 441, Nr. 19837. Rückwirkungen des Vertrages von Locarno.
- LHAKo Bestand 700,40, Nr. 1. Nachlass Dr. Hans Fuchs, Oberpräsident der Rheinprovinz
- LHAKo Bestand 709,2, Nr. 44. Ahrweiler Zeitung, Oktober 1925
- Stadtbibliothek Koblenz. Coblenzer Volks-Zeitung, Oktober 1925
- Stadtbibliothek Koblenz. Coblenzer General-Anzeiger, Oktober 1925
Literatur
- H. Fenske: Speyer in der Weimarer Republik (1918 bis 1933), in: Geschichte der Stadt Speyer, Bd. 2. Hg. von der Stadt Speyer, Stuttgart u. a. 1982, S. 293 - 354
- A. Golecki: Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Weimarer Republik, in: Geschichte der Stadt Koblenz, Bd. 2. Von der französischen Stadt bis zur Gegenwart, Stuttgart 1993
- E. R. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII. Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart u. a. 1984
- E. Kolb: Die Weimarer Republik. Oldenbourg-Grundriß der Geschichte, Bd. 16, München 1984
- K. Reimer: Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 - 1933). Ein Beitrag zur Geschichte der regionalistischen Bestrebungen in Deutschland, Frankfurt a.M. 1979.
- Rheinische Republik der Separatisten. Katalog zur Ausstellung im Landeshauptarchiv Koblenz, beabeitet von H.-J. Krüger, Koblenz 1983
- 1923/24. Separatismus im rheinisch-pfälzischen Raum, bearbeitet V. J. Kermann und H.-J. Krüger. Eine Ausstellung der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz auf dem Hambacher Schloß 1989
- F. Wein: Deutschlands Strom - Frankreichs Grenze. Geschichte und Propaganda am Rhein 1919 - 1930, Essen 1992