Der 7. Oktober 1725. Elendenbruderschaften an Rhein und Mosel
Am 7. Oktober 1725 wurde der "Ehrsambe Jacob Reichard Bürger in Coblenz" gemeinsam mit seiner Frau Mitglied in der Elendenbruderschaft der Stadt. Neben Koblenz entstanden auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Rheinland-Pfalz auch in Trier und in Müden und Ediger, zwei Dörfern an der Untermosel, vergleichbare Zusammenschlüsse. Die große Bereitschaft innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft, sich für karitative Zwecke zu engagieren bzw. zu bezahlen, beruhte auf der intensiven Verbindung von Sakralem und Weltlichem, die den Alltag der Menschen prägte. Anders als im 19. Jahrhundert, wo eine umfassende Sozial- und Fürsorgepolitik durch die gesetzlichen Vorgaben des preußischen Staates institutionalisiert wurde, entstand hier ein ausgeprägtes Fürsorgewesen allein auf der Grundlage des freiwilligen Engagements. Die Elendenbruderschaften waren eine der zahlreichen vor allem im 14. und 15. Jahrhundert entstehenden Einrichtungen, die die Möglichkeit zu "gottgefälligem Tun" boten. Diese Vereinigungen kümmerten sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten in den einzelnen Orten um die Fürsorge von Heimatlosen und Fremden und um die christliche Bestattung von Bedürftigen, die als Fremde in der Stadt starben.
Einen interessanten Einblick in die Lebensverhältnisse der von Armut und Elend betroffenen Bevölkerungsteile der mittelalterlichen Stadt bietet das Fürsorgewesen, das auch in den Städten an Rhein und Mosel sehr ausgeprägt gewesen ist. Vor dem Hintergrund der engen Verknüpfung von Sakralem und Weltlichem innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft war es ein "gottgefälliges", dem Seelenheil dienendes Tun, sich für karitative Maßnahmen zu engagieren, und die Bereitschaft dazu dementsprechend sehr groß. Eine der zahlreichen Möglichkeiten hierfür boten die sogenannten Elendenbruderschaften, die "fraternitas miserabilium" oder "fraternitas exulum" hießen. Ein zeitlicher Schwerpunkt in der Entstehung und Gründung von Bruderschaften lag im 14. und 15. Jahrhundert. Es entwickelte sich eine große Vielfalt von geistlichen Vereinigungen, die auch für Laien zugänglich waren. Neben der Verehrung eines Heiligen wurden die Bruderschaften zu einem ganz bestimmten Zweck bzw. als Interessenvertretung einer Personengruppe gegründet. In Koblenz gab es beispielsweise mehrere Bruderschaften, die der Heiligenverehrung gewidmet waren. Neben der St. Nikolausbruderschaft sind in diesem Zusammenhang die Rosenkranzbruderschaft und die Dreifaltigkeitsbruderschaft zu nennen. Die 1444 erstmalig erwähnte "Wyngartsludebroiderschaft" ist im Gegensatz dazu den berufsständischen Bruderschaften zuzurechnen, deren Organisation große Ähnlichkeiten mit einer Zunftordnung aufweist.
Die sogenannten Elendenbruderschaften, die im Gebiet des heutigen Bundeslandes Rheinland-Pfalz in den Städten Trier und Koblenz und Anfang des 16. Jahrhunderts auch in zwei Dörfern an der Untermosel in Müden und Ediger entstanden, hatten einen ganz anderen Zweck. Sie widmeten sich der Fürsorge von Bedürftigen aus den unteren Schichten, die als Fremde oder Heimatlose in Not gerieten. Die Ausrichtung eines christlichen Begräbnisses bei Todesfällen innerhalb dieser Personengruppe war ihr Hauptbetätigungsfeld.
Im Gegensatz zu den Bruderschaften an der Untermosel über die nur eine ausgesprochen lückenhafte Überlieferung vorliegt, ist die Geschichte der Trierer und der Koblenzer Vereinigung bekannt. Als älteste Bruderschaft dieser Art entstand in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts die Trierer Elenden- bzw. Giler-Bruderschaft, die 1441 bestätigt wurde und 1444 ihre erste Ordnung erhielt. Bemerkenswert ist bei dieser Bruderschaft der sehr große Einzugsbereich, den sie bei nn Mitgliedern gehabt hatte. "Er ist von einer erstaunlichen Weiträumigkeit und wird im Norden von Essen und Soest/Westfalen, im Süden von Luzern, im Westen von Paris und im Osten von Merseburg, Eger, Regensburg mit Außenposten Görlitz und Frankfurt/Oder begrenzt." Nach der zweiten Ordnung aus dem Jahre 1463 setzte sich die Mitgliederschaft aus " [...] elendigen, blynden, kruppell, sijechen, ußsetzigen, geraden und ander selige mentschen [...]" zusammen. Der größte Teil der Bruderschaft bestand aus Menschen, die ständig unterwegs waren, um ihren kargen Lebensunterhalt mit Betteln zu verdienen. Neben einigen wenigen Trierer Armen gehörten aber auch vermögende und angesehene Bürger, die für die finanzielle Ausstattung der Bruderschaft unerlässlich waren, zu den Brüdern. Vor allem mit ihren Mitgliedsbeiträgen wurden die Seelenmessen, Vigilien und die Begräbnisse für die verstorbenen Brüder sowie die Unterhaltung der Bettler-Herberge finanziert, in der auch Kranke versorgt wurden. Die Trierer Bruderschaft, die sehr eng mit dem Konvent der Karmeliter verknüpft gewesen war und in der Karmeliterkirche ihren eigenen Bruderschaftsaltar unterhielt, verlor im 16. Jahrhundert ihre weitgehende Unabhängigkeit. Im Jahre 1531 wurde sie vollständig in die Aufsicht der städtischen Obrigkeit übernommen und entwickelte sich in Folge dessen zu der stadttrierischen Institution "Almosenei".
Die Koblenzer Elenden-Bruderschaft wurde im Jahre 1441 gegründet und am 13. Januar 1444 von dem Trierer Erzbischof Jakob I. von Sierck (1439 - 1456) bestätigt. Das im Stadtarchiv Koblenz erhaltene älteste Bruderschaftsbuch und ein im Landeshauptarchiv vorhandenes jüngeres Exemplar geben unter anderem Auskunft über die Aufgaben dieser Bruderschaft. "Want von den werken der barmherzichen eyns ist dy doden zu begraben besonders dy elendyge menschen, want nu etzwat vaste vil fremden manne und frauwen durg daz jare zu Covelenze komment, der auch etzlichen so kranck werden, daz si da sterben, uff daz nu derselben lichnam zu der erden bestaet werten, und na christlicher ordenungen begangen und ure selen gedacht werde. Darumb han wir disse broderschaft gode zu loben und zo eren , allen geleubigen selen und besunder den elenden selen zo troeste angehaben, die man nennet dye elende broderschafft." Im Gegensatz zu der Trierer Bruderschaft, die lediglich die eigene Mitgliedschaft betreute, verpflichteten sich die Koblenzer Brüder, alle Armen, die in Koblenz starben, zu bestatten und in der Liebfrauenkirche eine Messe für sie lesen zu lassen bzw. darüber hinaus regelmäßig Totengedenken abzuhalten. Zusätzlich waren sie für die Bergung und angemessene Beerdigung der Ertrunkenen zuständig.
Nicht die Armen, Siechen und Elenden selbst, sondern "alle Kreise der Ritterschaft und Bürgerschaft, des Adels und der Geistlichkeit von dem Geiste christlicher Barmherzigkeit durchdrungen" gehörten zu den Mitgliedern. Bei Eintritt in die Bruderschaft war ein dem jeweiligen Vermögen angemessener Teil zu entrichten, darüber hinaus verpflichtete sich ein neues Mitglied bei seinem Eintritt, die Bruderschaft in seinem Testament zu berücksichtigen. Um die Attraktivität einer Mitgliedschaft in der Bruderschaft zu erhöhen und die Spendenbereitschaft anzuregen, wurden in den ersten Jahren mehrere Ablassprivilegien verliehen. "Eingedenk, daß es hier keine bleibende Stätte gibt, und uns nichts mehr im Tode folget als unsere guten Werke, die wir hier gewirket, daß es dann gilt die Aussaat zu ernten und nichts mehr, hat der Cardinal (Nicolaus von Cues) von der Gnade Gottes und Kraft der ihm verliehenen Gewalt St. Peter und Paulus [...] 40 Tage Ablaß gegeben allen, die mit wahrer Reue und Bekenntnis ihrer Sünden, die elenden Menschen begraben helfen und mitwirken, daß sie christlich beerdigt werden." Nach Auskunft des älteren Bruderschaftsbuches gehörten in den Jahren zwischen 1441 und 1773 über zweitausend Brüder und Schwestern dieser christlichen Vereinigung an. Sie sind einzeln namentlich und mit der Höhe ihrer Spende aufgenommen. So auch am 7. Oktober 1725 der "Ehrsambe Jacob Reichhard Bürger in Coblenz", der gemeinsam mit seiner Frau Maria Anna in der Endphase der Geschichte der Bruderschaft als Mitglied aufgenommen wurde. Durch Erlass der französischen Regierung vom 25. November 1797 wurde die Bruderschaft aufgelöst und damit der Schlussstrich unter eine seit Jahrhunderten effizient arbeitende Einrichtung eines auf freiwilligem Engagement beruhenden Fürsorgewesens gezogen. Anders als im 19. Jahrhundert, wo eine umfassende Sozial- und Fürsorgepolitik durch die gesetzlichen Vorgaben des preußischen Staates institutionalisiert wurde, sind die Elendenbruderschaften ein Beispiel für die Bereitschaft der mittelalterlichen Gesellschaft zu einer "Institutionalisierung der Barmherzigkeit", die ein ausgeprägtes Fürsorgewesen hervorbrachte, dessen positives Wirken bis ins 18. Jahrhundert erkennbar war.
Quellen
- LHAKo Bestand 1A, Nr. 1648. Bruderschaft aller Geistgläubigen Seelen zu Edinger, 1516
- LHAKo Bestand 1C, Nr. 123. Bruderschaftsbuch der Koblenzer Elendenbruderschaft 1676 - 1796 mit vorangehenden Aufzeichnungen über Gründung und Privilegien
- LHAKo Bestand 1C, Nr. 17101 - 17110. Rechnungen der Elenenbruderschaft zu Koblenz
- LHAKo Bestand 117, Nr. 80. Thönges Seiller, Bürger zu Koblenz und Christine seine Frau verkaufen den Meistern der elendigen Bruderschaft zu Koblenz ein Gült aus ihrem Wohnhaus in der Castorgasse, Mai 1582
- LHAKo Bestand 186, Nr. 415. Quittung der Brudermeister der armen Leute zu Müden über die Ablösung einer Rente, welche auf den Gütern von Johann Boiss v. Waldeck und Katherine v. Ingelheim lastete, 29. Juli 1480f
- Wilhelm Günther (Hg.): Codex Diplomaticus Rheno-Mosellanus, Bd. IV, Nr. 211. Erzbischof Jacob von Trier Bestätigt die in Coblenz zur christlichen Beerdigung armer, verstorbener Fremden errichtete Bruderschaft, 1445, Coblenz 1822 - 1826
Literatur
- Hans Bellinghausen (Hg.): 2000 Jahre Geschichte der Stadt an Rhein und Mosel, Boppard 1971.
- Dieter Kerber: Bürger und Einwohner im Mittelalter, in: Geschichte der Stadt Koblenz, Bd. 1. Von den Anfängen bis zum Ende der kurfürstlichen Zeit, Stuttgart 1992, S. 271 - 285
- Richard Laufner: Die "Elenden-Bruderschaft zu Trier im 15. Und 16. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der untersten Unterschichten im ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, hg. im Auftrag der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Koblenz 1978, S. 221 - 237
- Ernst v. Moeller: Die Elendenbrüderschaften. Ein Beitrag zur Geschichte der Fremdenfürsorge im Mittelalter, Leipzig 1906
- Joseph Mündich: Das Hospiotal zu Coblenz. Festschrift zur Hundertjahrfeier, Coblenz 1905
- Hans-Joachim Schmidt: Bettelorden in Trier. Wirksamkeit und Umfeld im hohen und späten Mittelalter, Trier 1986
- Bernhard Schneider: Bruderschaften im Trierer Land. Ihre Geschichte und ihr Gottesdienst zwischen Tridentinum und Säkularisation, Trier 1989
- Christian v. Stramberg: Denkwürdiger und nützlicher Rheinischer Antiquarius welcher die wichtigsten und angenehmsten geographischen, historischen und politischen Merkwürdigkeiten des ganzen Rheinstroms, von seinem Ausflusse in das Meer bis zu seinem Ursprunge darstellt, Bd. 4, I, Coblenz, die Stadt. Historisch und topographisch dargestellt, Coblenz 1856